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Die Schrödinger-Katastrophe


Die Schrödinger-Katastrophe begann an einem Freitag.
Unmerklich in ihren Anfängen war sie, kaum bemerkte er das Zögern des Daumens über dem Klingelknopf seiner Freundin, ein kurzes Zurückzucken nur, ein flüchtiger Gedanke störte, eine Stimme vielleicht, aus dem Nichts eine Formel flüsternd, einen Hauch Unsicherheit zurücklassend in einer unbedeutenden Geste, einer Handbewegung.
Dann war es vorüber, und er läutete.
Schnelle Schritte jenseits der Tür, ein Kuß und Glück. Vergessen der flüchtige Gedanke, viel zu diffus, zu unscharf, um gehalten zu werden, um wissen zu können, was er sagen wollte.
Doch der dünne Hauch Unsicherheit blieb.
Und war drei Tage später schon angewachsen.
Diesmal zögerte er vor der Tür seines Büros, zögerte, sie zu öffnen, einzutreten, seinen Kollegen zu begrüßen, sich von ihm die Tageszeitung zu borgen und bei einer Tasse Kaffee zu lesen.
Wieder etwas in seinem Hirn, wie ein Luftzug von einem Fenster, das irgendwo offenstand, ohne daß man davon wußte, und ein merkwürdiger Geruch nach totem Fleisch.
Was war es?
Er brauchte nur die Klinke zu drücken wie jeden Morgen. Nichts, wovor man Angst zu haben hätte.
Und er trat ein, begrüßte seinen Kollegen, lieh sich von ihm die Zeitung und schüttete heißen Kaffee in seinen Becher, der immer auf der Fensterbank stand.
Heute war er auf dem Aktenschrank gestanden, und auf der Hinfahrt hatte er den Zigarettenanzünder in seinem Wagen nicht mehr gefunden, aber das fiel ihm erst auf, als er die Zeitung aufschlug und das Bild sah.
In irgendeinem Land war wieder Krieg, und es war ein grausamer Krieg, der auch Kinder tötete, so wie jenes auf dem Bild, eine kleine Leiche aus Rasterpunkten, die eben noch gespielt haben mochte und nun blutüberströmt zwischen Börsennachrichten und Bankenwerbung auf seinem Schreibtisch lag.
Minutenlang starrte er das Bild an, starrte in die winzigen Augen, die so leer und deformiert schienen, aber das konnte auch am Auflösungsvermögen des Bildrasters liegen.
Er jedoch kannte in diesem Moment nur einen Gedanken:
Ich habe es getötet.
Schämen tat er sich, gekommen zu sein mit seinem Kaffee, die Seite aufgeschlagen zu haben, das Bild angesehen, teilgenommen an diesem Krieg durch bloßes Umblättern, teilgenommen und Schuld gehabt.
Jeder, der teilnimmt, hat Schuld.
Das Telefon klingelte, doch als er abnahm, war niemand dran.
Sein Kollege zuckte mit den Schultern.
Der Kaffee war inzwischen kalt, und er mußte ihn wegschütten.
Jemand schien das Waschbecken geputzt zu haben.
Als er Feierabend hatte, zögerte er, das Büro zu verlassen.
Sein Kollege war vor ihm gegangen. Er kam früher, und er ging früher. Es funktionierte. Eine einfache Rechnung, es funktionierte.
Er traute sich nicht, die Tür zum Flur zu öffnen, denn er war sich nicht sicher, ob der Flur auch dort sein würde.
Er hatte die Zeitung aufgeschlagen und das tote Kind gesehen.
Es war dagewesen, aber erst nach dem Umblättern.
Er öffnete mit leicht zitternder Hand die Tür, fand den Flur vor und ging.
Am nächsten Morgen sprang sein Wagen nicht an. Er mußte die U-Bahn nehmen, aber er hatte Angst davor.
Vor der Station angekommen, bemerkte er, daß er das Ende der nach unten führenden Rolltreppe nicht sehen konnte.
Eine Frau hetzte an ihm vorbei die Treppe hinunter, fast wollte er 'Halt!' schreien, aber bewunderte gleichzeitig ihren Mut, denn er wußte nicht, ob er sie je wiedersehen würde.
Als er in der U-Bahn saß und schwarze Wände, vom gelben Licht der Wagenbeleuchtung matt erhellt, an ihm vorbeirasten, begann es sich zu verschlimmern.
Jede U-Bahn-Station tauchte aus dem Schwarz auf, wimmelnde Menschen und bunte Plakate, und sie verschwand wieder im Schwarz.
Es war wie das Ein- und Ausschalten eines beängstigend fremdartigen Fernsehgerätes. Kanal für Kanal, Sendung für Sendung, und immer wieder gelöscht von den leeren Pausen dazwischen, in denen die Welt außerhalb des Waggons stoppte.
Abgeschaltet.
Er wagte nicht, die Bahn an irgendeiner Station zu verlassen und mit abgeschaltet zu werden.
Aber an der übernächsten mußte er raus.
Der Mann gegenüber bekam einen Herzanfall.
Röchelnd und das Hemd sich von der Brust reißend fiel er vornüber zu seinen Füßen und blieb reglos liegen.
Hier war seine Haltestelle, und er stieg über den Mann hinweg und drängte sich durch die glotzenden Passanten und rannte.
Irgendetwas begann wieder Formeln zu flüstern, fast schien es ihm wie eine Warnung, aber er verstand den Sinn nicht.
Um ein Haar wäre er in die Baustelle vor seinem Bürohaus gelaufen.
Gestern war sie noch nicht dagewesen.
Er ging noch einmal um den Block, denn er traute sich nicht ins Gebäude. Nur langsam kam er wieder zur Ruhe.
Der Fahrstuhl kam nicht. Für Minuten starrte er durch die Fenster in den Türen in den leeren Schacht, aber alles, was er sah, war nichts.
Schließlich nahm er die Treppe, denn sie war noch da, und er glaubte, der Fahrstuhl würde nie wieder auftauchen.
Als er abends das Büro verließ, warf er noch einen Blick in den Fahrstuhlschacht. Wieder sah er nur nichts. Er hatte den Fahrstuhl den ganzen Tag über nicht gesehen. Auf dem Weg zur Kantine nicht, auf dem Rückweg nicht. Immer hatte er einen verstohlenen, ängstlichen Blick in den Schacht geworfen.
Der Fahrstuhl war fort.
Das Abendessen in seinem Kühlschrank war noch da. Er hatte nicht damit gerechnet, es vorzufinden. Er öffnete den Kühlschrank, und es war da. Und er war froh darüber, denn er hatte Hunger.
Diese Nacht konnte er kaum schlafen.
Alpträume rissen ihn immer wieder wach. Das schmerzverzerrte Gesicht des Mannes aus der U-Bahn tauchte auf, und das des Kindes. Immer wieder trat er durch Türen in Räume, die verschwanden, sobald er eintrat, oder die über ihm zusammenfielen.
Am nächsten Morgen schließlich fühlte er sich wie gerädert.
Der Wagen sprang wieder nicht an. Heute fand er nicht einmal die Zündschlüssel.
Vor der U-Bahn hatte er jetzt noch größere Angst, und so ging er zu Fuß.
Er brauchte anderthalb Stunden, bis er an seinem Arbeitsplatz war. Er war früh losgegangen, ohne zu frühstücken, aber er kam trotzdem zu spät.
Als er nach minutenlangem Zögern eine Sekretärin kam den Flur hoch und starrte ihn dumm an, wie er schwitzend und zitternd vor der Tür stand - sein Büro betrat, war es leer.
Sein Arbeitskollege war nicht da.
Panisch schloß er die Tür wieder und lehnte sich schweratmend von außen dagegen.
Wo war er? Warum war er nicht da?
Wie der Fahrstuhl.
Fahrstühle verschwanden, Arbeitskollegen verschwanden.
Dafür tauchten tote Kinder auf und tote Männer.
Bis vor kurzem hatte am Ende des Flures ein großer Philodendron gestanden. Nun starrte er auf das runde Mal, welches der schwere Topf im Teppich hinterlassen hatte.
Die Grünpflanze war fort.
Er ging wieder nach Hause.
Langsam stieg er die Treppe wieder hinab, langsamer, als er sie hochgekommen war, und draußen auf der Straße, er war gerade vor die Tür des Bürohauses getreten, überfuhr in dem Moment ein Autofahrer eine Katze.
Sie huschte hinter einem Blumenkübel hervor, genau vor seinen Augen, rannte auf den Asphalt und war tot.
Zuhause schloß er alle Türen ab und weinte.
Die Tränen verwuschen das Bild des Zimmers, ließen die Farben ineinanderlaufen, und schließlich mußte er hastig das Wasser aus den Augen wischen, bevor aus dem wirren Farbmuster etwas anderes entstand.
Diese Nacht waren die Alpträume noch schlimmer.
Er stand in einer riesigen Halle, und in den Wänden waren zahllose Türen angebracht.
Eine ziellose Panik trieb ihn auf die Türen zu, ließ sie ihn aufreißen, und er wäre hindurchgestürzt, wenn er gekonnt hätte.
Aber hinter den Türen war immer nur Schwarz, das erst, wenn er genau hinsah, Gestalt annahm.
Dann tauchten Katzen und alte Männer daraus auf, starben oder verschwanden einfach wieder, oder sie blieben und schauten ihn ungläubig an, und er mußte zur Seite blicken, einen kurzen Moment wegsehen, und alles war anders.
Planlos riß er Tür für Tür auf, bis das, was dahinter war, ihn mehr entsetzte als die unerklärliche Panik in ihm, und schließlich bebte er vor Angst, auch nur noch eine einzige Tür öffnen zu müssen, dem Nichts dahinter durch sein Hinsehen Kontur geben zu müssen, durch sein Beobachten die Wege bestimmen, die Schicksale zu programmieren.
Aber die Männer und Katzen hinter den Türen schrien nach ihm, sie brauchten ihn, er mußte sie erlösen, herausholen aus ihrer Unbestimmtheit, heraus aus ihrer Zukunft in die Gegenwart, er allein konnte dies, aber er wollte es nicht, nicht noch eine Katze oder einen Mann sterben sehen oder verschwinden oder auftauchen und leben auf sein Kommando seinen Blick sein Sehen sein Erleben sein Sein Dasein
Er fuhr schweißgebadet hoch und suchte im Dunkel die Leuchtziffern des Weckers, und als er sie gefunden hatte, mußte er schreien.
Wieder hatte er etwas herausgerissen aus der Dunkelheit durch sein Wahrnehmen, hatte die Zeit aufgerufen weiterzulaufen.
Aber der Wecker war stehengeblieben.
Er hielt die Stimmen nicht länger aus, diese windartig durch Ritzen seines Geistes säuselnden Stimmen mit ihren spöttisch eingehauchten Formeln, die niemand verstand.
Sobald er sich darauf konzentrierte, verstummten sie.
Er konnte heute wieder nicht frühstücken, denn er hatte nichts mehr im Haus. Im Kühlschrank stand zwar noch ein Topf Hühnersuppe, aber er vermochte den Kühlschrank nicht mehr zu öffnen. Und selbst wenn er es gekonnt hätte, hätte er auch noch den Topf öffnen müssen.
Irgendwann faßte er dann doch seinen Mut zusammen und entschied sich, vor die Tür zu gehen, vielleicht zum Bäcker, einen Laib Brot einholen.
Doch er bemühte sich, nicht zu sehr um sich zu blicken, vor allem keine Leute anzuschauen. Die Verantwortung konnte er nicht ertragen.
So blieb die Welt im Dunkel des Unbestimmten. So würden keine Kinder mehr in Kriegen von Bomben getötet, keine unschuldigen Katzen mehr überfahren, so hatte er die Kontrolle.
Sobald er hinsah, wahrnahm, riß er die Zukunft in die Gegenwart, trat die Wege fest, bestimmte.
Unterließ er dies, würde das Schwarz hinter den Türen ewig dauern, könnten die alten Männer ewig leben in der Nacht ohne Angst auf Herzinfarkt, denn er war nicht da zu starren, ihre Schicksale zu zwingen, sich zu entscheiden im Namen der Realität.
Er mußte sich verlaufen haben.
Den Mantelkragen hochgeschlagen, den Hut ins Gesicht gezogen, die Augen immer nur auf einen kleinen Fleck Pflaster vor seinen Füßen fixiert, so mußte er in Gedanken irgendwo eine falsche Straße genommen haben.
Das, wovor er jetzt stand, war kein Bäcker.
Was es genau war, konnte er so nicht erkennen. Nur war es kein Bäcker. Und er würde nicht genauer hinsehen.
Vielleicht würde es dann ein Bäcker werden. Oder was auch immer.
Ohne Brot ging er wieder nach Hause und wunderte sich nicht einmal, daß er zurückfand.
Irgendwann wagte er aufzuschauen und stand vor seinem Haus.
Wo er war, wußte er nicht. Er hatte hingesehen, und da war sein Haus.
Abends klingelte das Telefon.
Er hatte sämtliche Gardinen zugezogen, Radio und Fernsehen ausgesteckt, jede Zeitung beiseitegeräumt, aber das Telefon hatte er vergessen, und nun klingelte es.
Das Geräusch ließ ihn zittern, und in jeder Pause fürchtete er den nächsten Klingelton, das rhythmische Pulsieren, die Aneinanderreihung der Signale, der Weg, den sie zeichneten, auf den sie zwangen.
Schließlich riß er den Hörer hoch, und am anderen Ende war seine Freundin.
Aber er ließ sie nicht reden, denn er hatte Angst um sie.
Hastig legte er wieder auf und riß das Telefonkabel aus der Wand.
In dieser Nacht löschte er besonders gründlich die Lichter seiner Wohnung.
Er schlief merkwürdig ruhig.
Einmal erschien ihm das Gesicht eines Mannes.
Er kannte ihn nicht, glaubte aber, ihn irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Die vielen Falten zeugten von Alter und zugleich Klugheit. Das Haar und der Schnurrbart waren schlohweiß, und in den Augen lag fast so etwas wie Traurigkeit.
Für einen Moment glaubte er, dieser Mann hätte ihm all die unverständlichen Formeln zugeflüstert, aber gerade als er ihn danach fragen wollte, steckte dieser ihm die Zunge heraus und löste sich auf.
Am nächsten Morgen blieben Fenster und Türen seiner Wohnung geschlossen.
Und nicht einmal die Augen öffnete er mehr.
Er hielt sie für immer geschlossen, und so hörte die Welt auf zu existieren.
Das war die Schrödinger-Katastrophe.


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